Reformstau auf der Dauerbaustelle Mobilitätswende

Langzeitdaten-Analyse von Agora Verkehrswende zeigt: Deutschland kommt seit 2002 nicht voran mit der Mobilitätswende / Auto-Dominanz überlagert kleine Fortschritte in großen Städten, jüngeren Generationen und beim Radverkehr

Deutschland ist noch immer weit davon entfernt, Mobilität für alle umwelt- und klimagerechter zu machen. Darauf verweist der Thinktank Agora Verkehrswende in einer Analyse der langfristigen Mobilitätstrends in Deutschland. Die Verkehrsleistung pro Kopf sei seit 2002 um 20 Prozent gestiegen. Fast die Hälfte dieses Zuwachses gehe auf den motorisierten Individualverkehr zurück. Die Zahl der Pkw nehme weiterhin jedes Jahr um 500.000 bis 700.000 Fahrzeuge zu. Positive Entwicklungen wie die Zunahme des Radverkehrs oder der Rückgang der Pkw-Nutzung unter jungen Erwachsenen fielen dagegen kaum ins Gewicht und seien auch nicht auf politische Initiativen zurückzuführen.

„Die Mobilitätswende ist eine große Dauerbaustelle“, sagt Christian Hochfeld, Direktor von Agora Verkehrswende. „Eigentlich wollten wir zeigen, dass es an manchen Stellen schon vorwärtsgeht, aber die vereinzelten Fortschritte wirken sich noch nicht auf die großen Trends aus. Die Dominanz des privaten Pkw ist ungebrochen. Durch Corona könnte sich das sogar noch verstärken. Die Folgen der Pandemie waren zwar nicht Thema unserer Analyse, aber wer in der aktuellen Situation verkehrspolitisch mehr erreichen will, als nur Symptome zu bekämpfen, sollte die von uns herausgearbeiteten Entwicklungen kennen. Die Mobilitätswende gehört für die kommende Legislaturperiode auf die Agenda aller Parteien. Unsere Analyse bietet eine Fülle von Daten und Anregungen für die Debatte.“

Die Analyse, die das Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt im Auftrag von Agora Verkehrswende erarbeitet hat, geht in elf Kapiteln auf entscheidende Aspekte ein – von der Entwicklung der Verkehrsleistung und der Nutzung einzelner Verkehrsträger bis zu den Mobilitätsroutinen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Siedlungsräumen. Als Grundlage diente die Studie „Mobilität in Deutschland“ mit ihren umfassenden Daten für die Zeit von 2002 bis 2017.

Starke Autoorientierung unter Berufstätigen, über 60-Jährigen, Kindern und Jugendlichen

Großen Handlungsbedarf sieht Agora Verkehrswende sowohl unter Berufstätigen als auch unter Seniorinnen und Senioren sowie unter Kindern und Jugendlichen als Mitfahrenden. Diese Gruppen seien besonders stark auf das Auto ausgerichtet. Arbeitswege und Dienstreisen etwa machten rund ein Drittel aller zurückgelegten Kilometer in Deutschland aus. 64 Prozent aller Arbeitswege würden mit dem Auto zurückgelegt – sieben Prozent mehr als im Durchschnitt aller Wege. Die Auslastung der Fahrzeuge sei beim Pendeln zudem geringer als bei jedem anderen Wegezweck.

Seniorinnen und Senioren sind laut Analyse im Vergleich zu früher deutlich mobiler und verfügen dabei auch immer mehr über einen eigenen Pkw. Der Anteil der Haushalte mit Menschen ab 65 Jahren, die einen eigenen Pkw nutzen können, sei seit 2002 von 63 auf 82 Prozent gestiegen. Immer mehr Menschen verfügten auch im fortgeschrittenen Alter noch über einen Führerschein. Am höchsten sei die Pkw-Ausstattung in Haushalten mit Kindern und Jugendlichen. Im Durchschnitt würden nur sieben Prozent dieser Altersgruppe in Haushalten ohne Pkw aufwachsen. Daran ändere sich auch nichts durch den Sonderfall, dass in großen Städten und Metropolen bis zu 20 Prozent der Haushalte mit Kindern und Jugendlichen keinen eigenen Pkw haben.

Kleine Fortschritte, große politische Herausforderungen

Anzeichen für einen Wandel zeichnen sich nach Einschätzung von Agora Verkehrswende zumindest schon in den Einstellungen der Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer ab. In jüngeren Generationen beginne sich die Bindung zum Auto zu lockern. 2003 konnten sich 60 Prozent der jungen Erwachsenen ein Leben ohne Auto nicht vorstellen; 2018 war dieser Anteil auf 36 Prozent gesunken. Im Gegenzug wachse die Zustimmung zum öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und zum Fahrrad. Insbesondere in den Städten seien junge Erwachsene immer flexibler unterwegs. Dort habe habe generell der Anteil des ÖPNV und das Fahrradverkehrs zugenommen. Gleichzeitig sei aber auch in der Stadtbevölkerung die Verkehrsleistung pro Kopf gestiegen, insbesondere durch zunehmenden Fernverkehr.

Um eine nachhaltige Wende in der Mobilität herbeizuführen, schlägt Agora Verkehrswende ein breites Bündel von Maßnahmen vor. Zum einen gehe es darum, die Privilegierung des Pkw aufzuheben und alle Verkehrsträger gleichzustellen, etwa durch ein neues Bundesmobilitätsgesetz. Außerdem sollten die bisher öffentlich getragenen Kosten des Autoverkehrs den Verursachern angerechnet werden, etwa durch die Bepreisung von CO2-Emissionen und eine fahrleistungsabhängige Pkw-Maut. Zum anderen müsse das Angebot öffentlicher Verkehrsträger massiv ausgebaut und weiterentwickelt werden. Um Verhaltensänderungen anzuregen, seien auch mehr Kommunikation, Beratung und Modellprojekte für nachhaltige Mobilität notwendig.

„Wir brauchen gute Mobilität für alle“, sagt Anne Klein-Hitpaß, Projektleiterin Städtische Mobilität bei Agora Verkehrswende. „Das heißt: schnelle und zuverlässige Verbindungen, hoher Komfort, mehr Lebensqualität im öffentlichen Raum, weniger Lärm, weniger Staus, weniger Unfallrisiko, weniger Luftverschmutzung, weniger Treibhausgase. Wenn wir diese Ziele in den Mittelpunkt stellen, wird der private Pkw zwangsläufig an Bedeutung verlieren.“

Zur Analyse „Baustellen der Mobilitätswende“

Die Analyse „Baustellen der Mobilitätswende. Wie sich die Menschen in Deutschland fortbewegen und was das für die Verkehrspolitik bedeutet“ (56 Seiten) steht unter www.agora-verkehrswende.de kostenlos zum Download zur Verfügung.

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