Mobilitätsarmut in Deutschland

Annäherung an ein unterschätztes Problem mit Lösungsperspektiven für mehr soziale Teilhabe und Klimaschutz

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Annäherung an ein unterschätztes Problem mit Lösungsperspektiven für mehr soziale Teilhabe und Klimaschutz

Mobilitätsarmut ist ein in Deutschland relevantes, aber noch unterbeleuchtetes Phänomen. Studien zu Mobilitätsarmut in Deutschland haben sich bisher darauf konzentriert, einzelne Städte oder Regionen genauer zu untersuchen. In diesem Diskussionspapier versuchen wir, das Phänomen an sich deutlicher zu fassen und seine Ausprägungen in Deutschland zu umreißen.

Wir skizzieren auch erste Lösungsansätze, um Anregungen für die weitere Diskussion zu geben. Dabei halten wir es für wichtig, die Zusammenhänge in einem breiteren Kontext zu betrachten. Keine Maßnahme wird allein ausreichen, um alle Facetten zu adressieren. Es ist auch nicht allein die Verkehrspolitik gefragt, sondern gleichzeitig Sozial- und Finanzpolitik, Stadtplanung, Umwelt- und Arbeitsmarktpolitik. Gerade in einem ressortübergreifenden Verständnis wird es möglich, Klimaschutz und soziale Teilhabe zu verknüpfen. Klimaschutz im Verkehr kann dann ein Weg sein, mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen.

Noch steht die Debatte über Mobilitätsarmut in Deutschland am Anfang. An vielen Stellen ist der Forschungsbedarf groß. Groß sind auch die Herausforderungen, die auf Politik und Gesellschaft zukommen. Mit unserem Papier möchten wir dazu beitragen, diese Herausforderungen anzugehen, die Forschung zu intensivieren und mehr politische Aufmerksamkeit für die Themen Mobilitätsarmut, soziale Teilhabe und Klimaschutz zu gewinnen.

Das Papier basiert auf einem Hintergrundbericht des Deutschen Instituts für Luft- und Raumfahrt (DLR), der im Auftrag von Agora Verkehrswende durch Dr. Kerstin Stark und Dr. Ariane Kehlbacher (beide DLR) sowie Dr. Giulio Mattioli (TU Dortmund) als Unterauftragnehmer erstellt wurde. Die Ergebnisse wurden vorab mit einem beratenden Begleitkreis – bestehend aus Expert:innen und Interessenvertreter:innen aus Bundespolitik, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Forschung – diskutiert. Ihre Kommentare und Anregungen sind in das vorliegende Papier eingeflossen.

Kernergebnisse

  1. 1

    Mobilität ist eine wichtige Voraussetzung für soziale Teilhabe – wer in der Mobilität eingeschränkt ist, kann als mobilitätsarm bezeichnet werden.

    Mobilitätsarmut ist ein komplexes und vielschichtiges Problem. Es zeigt sich zum Beispiel, wenn Menschen sich in ihrer Mobilität aus finanziellen Gründen einschränken müssen (Erschwinglichkeit), wenn Orte des täglichen Bedarfs weit weg oder schlecht erreichbar sind (Erreichbarkeit), wenn kein gutes Mobilitätsangebot, insbesondere des öffentlichen ­Verkehrs, verfügbar ist (Verfügbarkeit) oder wenn viel Zeit unterwegs verbracht werden muss, die dann für Erholung oder soziale Aktivitäten fehlt (Zeitarmut). Die verschiedenen Dimensionen von Mobilitätsarmut können sich gegenseitig verstärken oder auch aufheben, zum Beispiel, wenn genügend Geld oder Zeit vorhanden ist, um Mobilität zu gewährleisten.

  2. 2

    Mobilitätsarmut ist in Deutschland ein relevantes Phänomen.

    Viele Menschen mit niedrigem Einkommen können sich weite Wege nicht leisten. Das führt zu weniger sozialer Teilhabe oder – insbesondere bei Angewiesenheit auf einen Pkw – zu starker Belastung des Haushaltsbudgets und Verzicht in anderen Lebensbereichen. Denn in vielen Regionen sind Orte der sozialen und gesundheitlichen Versorgung, des Einkaufs, der Bildung, Erholung und Kultur ohne eigenen Pkw nicht gut erreichbar. Dort sind neben ärmeren Menschen insbesondere junge und ältere sowie Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrer sozialen Teilhabe eingeschränkt. Besonders häufig ist das in ländlichen Regionen mit niedriger ÖPNV-Erschließungs- und Angebotsqualität der Fall. Gemeinden mit sehr niedrigen Einkommen und sehr hoher Autoabhängigkeit sind entsprechend besonders vulnerabel gegenüber höheren Kraftstoffpreisen.

  3. 3

    Die Komplexität von Mobilitätsarmut erfordert ein vielschichtiges Maßnahmenpaket.

    Maßnahmen gegen Mobilitätsarmut sollten darauf abzielen, Autoabhängigkeit zu verringern, einkommensarme Haushalte zu entlasten und die räumliche und zeitliche Flexibilität zu erhöhen. Strukturell lässt sich Mobilitätsarmut am besten durch den Ausbau des öffentlichen Verkehrs sowie durch autounabhängige Infrastrukturen und Arbeitsmodelle abbauen. Eine Mobilitätsgarantie in allen Regionen und ein entsprechend leistungsfähiger ÖPNV in Stadt und Land könnten ein Mindestmaß an Mobilität und sozialer Teilhabe sicherstellen. Zielgerichtete Förderprogramme zur Anschaffung klimaverträglicher Verkehrsmittel und die finanzielle Kompensation höherer CO2-Preise könnten zudem vulnerable Haushalte stärken. Wichtig ist dabei, dass die eingesetzten Maßnahmen sich sinnvoll ergänzen und gegenseitig verstärken.

  4. 4

    Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit ergänzen sich.

    Klimaschutzmaßnahmen können soziale Teilhabe verbessern, zum Beispiel, wenn durch einen erschwinglichen und gut ausgebauten öffentlichen Verkehr Menschen mobil werden, die sich zuvor viele Wege nicht leisten konnten oder aus anderen Gründen auf Reisen verzichten mussten. Die Transformation des Verkehrssektors kann Sozialpolitik nicht ersetzen – dennoch lassen sich sozial- und klimapolitische Anliegen in ihrem Rahmen sinnvoll zusammenbringen. Klima- und Sozialpolitik stehen also nicht im Widerspruch zueinander, sondern sind zwei Seiten einer Medaille.

  5. 5

    Um Mobilitätsarmut genauer zu untersuchen, braucht es mehr und bessere Daten.

    Die Ergebnisse zum Status quo der Mobilitätsarmut in Deutschland bieten einen ersten Überblick, auf dessen Basis weiterführende Studien folgen sollten. Dafür sollte die Datenlage weiter verbessert werden. ­Darauf aufbauend lassen sich dann detaillierte Vorschläge zur Ausgestaltung von Maßnahmen gegen Mobilitäts­armut herleiten und offene Fragen beantworten. Das betrifft insbesondere Fragen zur Detail­gestaltung, der praktischen Umsetzung, der Finanzierung sowie zur Abschätzung von Wechsel­wirkungen. Voraussetzung dafür ist, dass Mobilitätsarmut in Politik und Gesellschaft als relevantes Problem anerkannt wird.

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Bibliografische Angaben

  • Autoren

    Janna Aljets, Benjamin Fischer

  • Publikationsnummer

    105-2023-DE

  • Versionsnummer

    1.0

  • Veröffentlichungsdatum

    09/2023

  • Seitenzahl

    40

  • Zitiervorschlag

    Agora Verkehrswende (2023): Mobilitätsarmut in Deutschland. Annäherung an ein unterschätztes Problem mit Lösungsperspektiven für mehr soziale Teilhabe und Klimaschutz

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