Mehr Realismus, bitte!

Die Erderwärmung lässt sich ohne Verkehrswende nicht wirksam bremsen. Der Strukturwandel verursacht zwar Kosten. Er muss trotzdem beschleunigt werden. Wer ihn ausbremst, unterschlägt die Kosten unterlassenen Klimaschutzes.

 

 

Im Koalitionsvertrag der Großen Koalition heißt es: „Die Mobilitätspolitik ist dem Pariser Klimaschutzabkommen … verpflichtet.“ Das ist gut. Nur, bisher ist es nicht mehr als ein politisch korrektes Lippenbekenntnis. Es muss mehr daraus werden. Und zwar schnell.

 

Schon ein wenig Arithmetik offenbart, wohin die Reise gehen muss.

Ziel des Pariser Abkommens ist es, den Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur „deutlich unter 2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau“ zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, „um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen“.

Soll das 1,5-Grad-Ziel nicht verfehlt werden, können nach neuesten, bereits nach oben korrigierten Erkenntnissen des Weltklimarates IPCC, weltweit noch knapp 420 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre abgegeben werden. Da momentan jährlich rund 42 Milliarden Tonnen emittiert werden ist das Budget bald aufgebraucht. Noch vor dem Jahr 2030.

Um das 2-Grad-Ziel nicht zu reißen bleibt noch etwas mehr Zeit. Der Preis des Zögerns wäre jedoch, unter anderem, dass

  • in Zukunft doppelt so viele Menschen unter Wassernotstand leiden,
  • die Ernteverluste bei Mais, Reis und Weizen größer ausfallen,
  • zehn Millionen mehr Menschen den mit dem steigenden Meeresspiegel verbundenen Risiken ausgesetzt sind.

Es gehört nicht viel Fantasie zu der Prognose, dass bei 2 statt 1,5 Grad Erwärmung auch die klimabedingte Migration erheblich größer sein wird – mit Folgen, die sich nach der Erfahrung der vergangenen Jahre als sozialer Sprengsatz ungeahnten Ausmaßes erweisen werden.

„Auf ewig fünf vor zwölf“

Tatsächlich steuert die Menschheit aktuell aber nicht einmal auf eine Erwärmung von zwei, sondern eher auf eine von plus vier Grad zu: Die CO2-Emissionen sind auf Rekordniveau gestiegen, folglich wächst die CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre, anstatt zu sinken. Als Folge davon rücken Hungersnöte, wachsende Gesundheitsrisiken, häufigere Hitzewellen, mehr Dürren und Fluten und der Verlust von Ökosystemen rasch näher – so, als hätte sich die Menschheit vor einem Vierteljahrhundert beim legendären Erdgipfel in Rio de Janeiro nicht darauf geeinigt, „eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems“ zu verhindern. Seit diesem denkwürdigen Beschluss mahnen Beobachter des Schauspiels unermüdlich, es sei nun wirklich fünf vor zwölf – so, als hätte jemand die Uhr angehalten. „Auf ewig fünf vor zwölf“, kommentierte ein scharfsinniger Beobachter dieses bizarre Ritual, das während der Klimakonferenz in Katowice erneut zu besichtigen sein wird.

Der Glaube, das Klimaschutzziel sei zu erreichen, solange Klimaschutz Gegenstand nicht enden wollenden Zögerns und Abwägens ist, nicht aber zur Leitlinie politischen Handelns wird, ist ein Glaube, der jedenfalls eins nicht ist: glaubhaft. Das Schlimmste lässt sich nur verhindern, wenn die Politik radikaler wird.

Ein Viertel der CO2-Emissionen aus dem Verkehr

Der Verkehr, voran der Straßenverkehr, ist maßgeblich für den wenig verheißungsvollen Trend verantwortlich. Was angesichts der wachsenden Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien allzu schnell vergessen wird: Weltweit, ebenso wie in Deutschland, ist Mineralöl nach wie vor der wichtigste Energieträger – und das meiste davon wird im Transportsektor verbrannt. Entsprechend stammt ein Viertel der globalen CO2-Emissionen, das ist mehr als der Beitrag der Industrie und des Baugewerbes, von einem fahrbaren Untersatz, das Gros davon entsteht in einer Handvoll Länder, den G20-Nationen. Wäre es angesichts dieser Konstellation etwa abwegig, die Autonation Deutschland würde sich auf den Weg machen, das Verkehrssystem zu dekarbonisieren – zum Beispiel mit dem beschleunigten Ersatz von Verbrennungs- durch Elektromotoren und der zeitgleichen Beschleunigung der erneuerbaren Stromerzeugung?

Wäre es natürlich nicht. Tatsächlich aber wird von so genannten Experten als „nicht realistisch“ abgetan, was die Erderwärmung wirksam bremsen würde. Nur, die vermeintlich realistischen Optionen verfehlen eben – leider, leider – das Klimaschutzziel. Ein bisschen radikaler darf, ja muss die Politik deshalb werden, zumal die Einwände gegen eine konsequentere Klimaschutzpolitik nicht wirklich überzeugend sind.

Es sind stets zwei Argumente, die von den Bremsern in Politik und Wirtschaft ins Feld geführt werden. Erstens: Zu teuer. Zweitens: drohende Jobverluste.

  • Kosten: Tatsächlich, ließ vor Kurzem ausgerechnet der ADAC wissen, sind Elektroautos schon heute „oft überraschend günstig“. Ein VW e-Golf fährt zwar, werden die bei der Stromerzeugung entstehenden Emissionen berücksichtigt, gegenwärtig auch nicht emissionsfrei, ist aber deutlich weniger klimaschädlich als ein vergleichbarer Benziner – und zieht bei den Kosten mit diesem gleich. Übrigens, soviel zur Glaubwürdigkeit der Bedenkenträger: Als vor 30 Jahren über den Drei-Wege-Katalysator geredet und gestritten wurde, ließen die Gegner des Vorhabens verlauten, ein Auto mit Kat werde „etwa 5.000 Mark“ mehr kosten.
     
  • Arbeitsplätze: Eine im Auftrag der IG Metall und führender Automobilhersteller angefertigte Studie des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO kommt zu dem Ergebnis, dass in den Jahren bis 2030 jeder vierte Arbeitsplatz in der Motoren- und Getriebeherstellung dem Produktivitätsfortschritt zum Opfer fällt – auch dann, wenn in gut zehn Jahren nach wie vor praktisch jeder neue Pkw mit einem Verbrennungsmotor ausgestattet ist. Würden 2030 bis auf einen kleinen Rest praktisch alle neu in den Markt kommenden Fahrzeuge einen Stecker haben, dann würde die Zahl der für die Herstellung von Antriebssträngen nicht mehr benötigen Arbeitskräfte zwar steigen – aber immerhin bliebe jeder zweite der rund 210.000 Arbeitsplätze erhalten. Angesichts der Wettbewerber der deutschen Autoindustrie, vor allem jenen aus China, ist fraglich, ob damit auch dann zu rechnen wäre, würden die hiesigen Hersteller noch lange am Verbrennungsmotor festhalten. In China, dem größten Automarkt der Erde, haben sich jedenfalls einige Unternehmen aufgemacht, deutsche Autokonzerne in Sachen Elektromobilität zu überholen, bevor diese überhaupt richtig gestartet sind. Im Übrigen: In anderen Branchen werden mit der Verkehrswende neue Arbeitsplätze entstehen, nicht verschwinden.

Beispiellose Versagen von Politik und Wirtschaft in der Dieselkrise

Welche wirtschaftlichen Folgen kollektive Verdrängung hat, offenbart das beispiellose Versagen von Politik und Unternehmen in der Dieselkrise. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen, das von der Bundesregierung berufene Beratungsgremium mit dem amtlichen Auftrag, bei allen „umweltpolitisch verantwortlichen Instanzen“ die Urteilsbildung zu erleichtern, schrieb bereits im Jahr 2005 (!) diesen Satz in eines seiner jedermann zugänglichen Gutachten:

„Mit der Verbesserung elektronischer Systeme zur Steuerung des Motors ergeben sich auch Möglichkeiten, die gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte zwar bei der Abgasprüfung einzuhalten, im realen Betrieb aber zum Beispiel auf Kosten hoher NOx-Emissionen kraftstoffsparender zu fahren.“

Leider haben sich die umweltpolitisch verantwortlichen Instanzen ziemlich unverantwortlich verhalten, diese Warnung ignoriert, und dem Treiben von VW & Co keinen Einhalt geboten. Hätten sie es getan, wäre ihnen heute Ärger und Wut von Dieselfahrern und Stadtbewohnern erspart geblieben – und der Autoindustrie der mit hohen Kosten und schmerzhaftem Imageverlust verbundene Skandal.

In jüngerer Vergangenheit gab es schon einige Berufsgruppen, die der technische Wandel überflüssig gemacht hat: Das „Fräulein“ vom Amt, der Tankwart, der Setzer. Die Aussicht, dass in Zukunft weniger Motoren- und Getriebebauer gebraucht werden, weil die Herstellung von Elektrofahrzeugen mit weniger Arbeitseinsatz auskommt, ist also alles andere als ein einmaliger Vorgang. Es ist ein Vorgang, der kluge Politik erfordert – nicht aber den Tritt auf die Bremse beim Klimaschutz rechtfertigt.

Schließlich ist es der Klimawandel, der unseren Lebensstil bedroht, nicht die Verkehrswende.

Christian Hochfeld ist Diplom-Ingenieur und seit 2016 Geschäftsführer von Agora Verkehrswende. Die Denkfabrik aus Berlin arbeitet daran, mit zentralen Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft die Grundlagen für einen im Jahr 2050 vollständig dekarbonisierten Verkehrssektor zu legen.

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