Zukunftsfähiges Verkehrssystem braucht zusätzliche Finanzierungsquellen
Studie von Agora Verkehrswende und Dezernat Zukunft zum öffentlichen Finanzbedarf für Infrastruktur, ÖPNV und Automobilwirtschaft / Für mehr staatliche Investitionen und gerechtere Lastenverteilung spielen Kredite und Gebühren eine wichtige Rolle / Gemeinsame Pressemitteilung
Berlin, 24. November 2025. Zur Finanzierung eines zukunftsfähigen Verkehrssystems muss die Bundesregierung in den nächsten zehn Jahren zusätzliche Quellen in erheblichem Umfang erschließen. Allein bis 2030 beläuft sich der öffentliche Finanzbedarf für Schienenwege und Fernstraßen, den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und die Unterstützung der Automobilwirtschaft bei der Transformation auf mindestens 390 Milliarden Euro, wobei für den Ausbau des ÖPNV neben dem Bund auch Länder und Kommunen Anteile übernehmen. Auch mit dem Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaneutralität lasse sich dieser Bedarf aller Voraussicht nach nicht decken. Das geht aus einer Studie der Thinktanks Agora Verkehrswende und Dezernat Zukunft über mögliche Finanzierungsoptionen hervor. Die Studie wurde von einem Sachverständigenrat aus Verkehrs- und Finanzwirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik begleitet.
„Es ist höchste Zeit für einen Neustart in der Finanzierung des Verkehrssystems“, sagt Dr. Wiebke Zimmer, stellvertretende Direktorin von Agora Verkehrswende. „Das Sondervermögen ist ein wichtiger erster Schritt. Es hilft, den Investitionsstau abzubauen, reicht aber bei Weitem nicht aus, um Schienen, Brücken und Straßen sowie Busse und Bahnen für die Zukunft fit zu machen. Bislang wird lediglich einer prognostizierten Verkehrsentwicklung hinterhergeplant. Für die Zukunft sollte die Bundesregierung politische Ziele setzen und daran die Planung und Finanzierung ausrichten – orientiert am Ziel der Klimaneutralität und mit den Grundsätzen Erhalt vor Neubau und Schiene vor Straße.“
Neue Finanzierungsarchitektur als politische Aufgabe
Auf Basis der absehbaren öffentlichen Finanzbedarfe analysiert die Studie fünf Finanzierungsoptionen, die zur Deckung des zusätzlichen Bedarfs beitragen können: staatliche Kreditaufnahme, Steuerreformen, Straßennutzungsgebühren für Lkw und Pkw, die finanzielle Beteiligung von Gruppen, die von einem leistungsfähigen ÖPNV-Angebot indirekt profitieren, und privates Kapital. Im Sachverständigenrat gab es zu diesen Optionen unterschiedliche Standpunkte. Einig waren sich alle, dass neue Finanzierungsquellen herangezogen beziehungsweise bestehende ausgeweitet werden müssen. Die genaue Gewichtung und Ausgestaltung sei jedoch letztlich Aufgabe der Politik.
Dr. Vera Huwe vom Dezernat Zukunft sagt zu den Finanzierungsoptionen: „Für eine dauerhaft tragfähige Finanzierung des Verkehrssystems sind aus unserer Sicht zusätzliche Kredite und Gebühren zentral. Kredite sind angemessen, weil auch zukünftige Generationen von einer modernen Infrastruktur profitieren und entsprechend an den Kosten beteiligt werden können. Eine verursachergerechte Pkw-Maut sichert die Infrastrukturfinanzierung unabhängig von der öffentlichen Haushaltslage und ermöglicht eine fairere Verteilung der Kosten. ÖPNV-Beiträge, die unabhängig von der individuellen Nutzung erhoben werden, berücksichtigen, dass Wirtschaft und Gesellschaft davon profitieren, wenn eine Region gut mit Bus und Bahn erschlossen ist.“ Für die Zahlung dieser Beiträge kämen Nutznießende wie zum Beispiel Unternehmen oder Einwohnerinnen und Einwohner infrage.
Aus Sicht der Thinktanks sind darüber hinaus mehr öffentliche Einnahmen und eine verbesserte Lenkungswirkung möglich, wenn verkehrsbezogene Instrumente wie Kfz-Steuer, Dienstwagenbesteuerung, Entfernungspauschale und Energiebesteuerung stärker an ökologischen und sozialen Kriterien ausgerichtet werden. Im Sachverständigenrat wurden die einzelnen Optionen kontrovers diskutiert. Obwohl sich einige Potenziale aus Steuerreformen theoretisch schnell erschließen lassen, müsse in der politischen Praxis mit kleinen Schritten und längeren Zeiträumen gerechnet werden. Privates Kapital sollte hingegen nur eine untergeordnete Rolle bei der Finanzierung öffentlicher Infrastrukturen spielen, weil die Finanzierungskosten höher sind als bei staatlichen Krediten und zudem die Renditeerwartungen zu insgesamt höheren Kosten für die Allgemeinheit führen können.
Mittelfristig wirksame Lösungen erfordern umgehendes Handeln
Für die Jahre bis 2030 gehen Agora Verkehrswende und Dezernat Zukunft davon aus, dass die öffentliche Finanzierung des Verkehrssystems vor allem über die bestehenden Instrumente abgedeckt wird: also für die Infrastruktur in erster Linie über den Bundeshaushalt, Sondervermögen und Lkw-Maut, für den ÖPNV über die Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen sowie Ticketeinnahmen, für die Transformation der Automobilwirtschaft über den Bundeshaushalt und den Klima- und Transformationsfonds. Nennenswerte Beiträge aus zusätzlichen oder angepassten Finanzierungsinstrumenten seien eher in der Zeit nach 2030 zu erwarten.
Zum Umsetzungstempo erläutert Vera Huwe: „Es braucht Zeit, bis neue Instrumente wirken können. So sollten etwa eine verursachergerechte Pkw-Maut und ÖPNV-Beiträge für Nutznießende sozial verträglich und schrittweise umgesetzt werden. Diese Instrumente werden daher erst nach 2030 ihr volles Potenzial entfalten können. Gleiches gilt für die Reform der Schuldenregeln. Auch wenn die Finanzbedarfe der Infrastruktur nach Abbau des Sanierungsstaus wieder sinken, ist eine Ausweitung der Kreditfinanzierung für eine dauerhaft tragfähige Finanzierungslösung, die über zeitlich begrenzte Sondervermögen hinausreicht, nötig. Umso wichtiger ist es, dass die Politik umgehend die notwendigen Schritte einleitet.“
Wiebke Zimmer ergänzt mit Blick auf den Klimaschutz: „Ein Verkehrssystem, das den Wirtschaftsstandort stärkt und zum Ziel der Klimaneutralität passt, zahlt sich für die Gesellschaft aus. Zunächst sind zwar höhere Investitionen erforderlich, etwa für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und für den Wechsel zur Elektromobilität. Durch Energieeffizienz und Verkehrsverlagerung sowie weniger Emissionen sinken aber auf Dauer die volkswirtschaftlichen Kosten. Politisches Zögern treibt hingegen die Kosten in die Höhe. Es wird nie wieder so günstig sein wie jetzt, das Verkehrssystem zukunftsfähig zu machen.“
Investitionsbedarfe und Finanzierungslösungen für Infrastruktur, ÖPNV und Automobilwirtschaft
Neben der Beschreibung der Herausforderungen und Optionen bei der Finanzierung des Verkehrssystems skizziert die Studie für jeden der drei zentralen Bereiche exemplarisch eine Finanzierungslösung. Für die Schiene und den Erhalt von Bundesfernstraßen wird für das Jahr 2030 ein Investitionsbedarf von 43 Milliarden Euro und für 2035 von 32 Milliarden Euro geschätzt. Zum Vergleich: 2025 belief sich die öffentliche Finanzierung für diesen Bereich auf knapp 30 Milliarden Euro. Wichtige Finanzierungselemente sind vor allem die Lkw-Maut, Haushaltsbeiträge und Kreditaufnahmen des Bundes sowie perspektivisch eine Pkw-Maut.
Beim ÖPNV entwickelt sich der Bedarf von zuletzt 44 Milliarden Euro auf geschätzt 59 Milliarden Euro im Jahr 2030 und 74 Milliarden Euro im Jahr 2035. Neben Ticketeinnahmen und Mitteln aus Bund, Ländern und Kommunen berücksichtigt die beispielhafte Finanzierungslösung vermehrt Mittel aus einem ÖPNV-Beitrag für Nutznießende und aus anteiligen Einnahmen aus der Pkw-Maut.
Bei der Transformation der Automobilwirtschaft ist der staatliche Finanzierungsbedarf deutlich geringer, weil hier vor allem die Privatwirtschaft in der Verantwortung steht. Der Staat könne aber vorübergehend Anschubhilfe leisten und Investitionen in Innovationen erleichtern, etwa für die Anschaffung von E-Pkw und für die Bereiche Batteriezellfertigung, Rohstoffversorgung und autonomes Fahren. Auch den Strategiedialog kann die öffentliche Hand im Rahmen von Transformationsnetzwerken fördern. Der Finanzierungsbedarf entsteht nach den Berechnungen von Agora Verkehrswende und Dezernat Zukunft vornehmlich in den kommenden fünf Jahren: Im Jahr 2030 liegt er bei knapp fünf Milliarden Euro, bis 2035 fällt er auf drei Milliarden Euro.
Empfehlungen des Sachverständigenrats
Die Studie enthält auch Empfehlungen des Sachverständigenrats für die Gestaltung und Finanzierung eines zukunftsfähigen Verkehrssystems. Übergreifend ruft der Rat dazu auf, die Investitionen an nachhaltigen politischen Zielen auszurichten und bei der Wahl und Gewichtung der beschriebenen Finanzierungsoptionen schnell eine Entscheidung zu treffen. Für den Verkehrsträger Schiene hebt der Rat hervor, dass das Investitionsvolumen stetig steigen müsse. Ein überjähriger Eisenbahninfrastrukturfonds könne Planungssicherheit schaffen; eine Reform der Trassenpreise in Richtung Grenzkosten die Wettbewerbsfähigkeit der Schiene erhöhen. Auch für den ÖPNV hält der Rat einen deutlichen Ausbau und deutlich mehr Mittel für nötig. Mit Blick auf die Transformation der Automobilwirtschaft plädiert er dafür, eine temporäre Anschubfinanzierung für einen beschleunigten Hochlauf der Elektromobilität zu ermöglichen und eine europäische Batteriezellfertigung aufzubauen.
Der Sachverständigenrat für die Finanzierung eines zukunftsfähigen Verkehrssystems entstand auf Initiative von Agora Verkehrswende und Dezernat Zukunft. Das Projekt wurde von der Stiftung Mercator gefördert. Der Rat hat sich in mehreren Sitzungen mit den Autorinnen und Autoren der Studie beraten. Mitglieder des Rats sind: Christine Behle, Stellvertretende Vorsitzende ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft; Christiane Benner, Vorsitzende IG Metall; Dr. Christian Dahlheim, Vorstandsvorsitzender Volkswagen Financial Services AG; Werner Gatzer, Haushaltsstaatssekretär a. D. und Aufsichtsratsvorsitzender DB AG; Dr. Anne Greinus, Geschäftsleiterin INFRAS AG; Winfried Hermann, MdL, Minister für Verkehr Baden-Württemberg; Alexander Möller, Geschäftsführung ÖPNV, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) e.V. ; Carolin Schenuit, Geschäftsführende Vorständin Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft e.V.; Silke Stremlau, Vorsitzende Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung in der 20. Legislaturperiode; Prof. Dr. Achim Truger, Professor für Staatstätigkeit und Staatsfinanzen Universität Duisburg-Essen und Mitglied im Sachverständigenrat Wirtschaft.
Zum Abschlussbericht
Der Abschlussbericht „Eckpunkte für die Finanzierung eines zukunftsfähigen Verkehrssystems“ von Agora Verkehrswende und Dezernat Zukunft, einschließlich der Empfehlungen des Sachverständigenrats, steht zum Download zur Verfügung unter:
- https://www.agora-verkehrswende.de/veroeffentlichungen/eckpunkte-fuer-die-finanzierung-eines-zukunftsfaehigen-verkehrssystems
- https://dezernatzukunft.org/veroffentlichungen/archiv-seite-des-dezernats-zukunft/
Über Agora Verkehrswende
Agora Verkehrswende ist ein Thinktank für klimaneutrale Mobilität mit Sitz in Berlin. Im Dialog mit Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft setzt sich die überparteiliche und gemeinnützige Organisation dafür ein, die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor auf null zu senken. Dafür entwickelt das Team wissenschaftlich fundierte Analysen, Strategien und Lösungsvorschläge. Initiiert wurde Agora Verkehrswende Anfang 2016 von der Stiftung Mercator und der European Climate Foundation. Gesellschafter sind die beiden Stiftungen. www.agora-verkehrswende.de
Über Dezernat Zukunft
Dezernat Zukunft ist ein überparteilicher Thinktank mit dem Ziel, Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik verständlich zu erklären, einzuordnen und neu zu denken. Mit unseren Denk- und Lösungsansätzen richten wir uns an politische Entscheidungsträger:innen, an Presse und Wissenschaft, sowie an Nachwuchsdenker:innen. Damit wollen wir zur Debatte beitragen und Menschen bei der Bildung ihrer politischen Meinung unterstützen. Bei dieser Arbeit sind wir geleitet von unseren Kernwerten: Demokratie, Menschenwürde und breit verteilter Wohlstand. www.dezernatzukunft.org
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