Weniger Verkehr versuchen

Wird Straßenraum neu verteilt, fließt der motorisierte Verkehr nicht unbedingt in andere Straßen. Viele Autofahrten bleiben aus, weil das Mobilitätsverhalten sich dem Angebot anpasst. Das zeigt ein Blick auf aktuelle Verkehrsversuche.

Die Verkehrswende verändert den Alltag von Menschen auf unterschiedliche Weise. Wird von mehreren Fahrstreifen einer für den Busverkehr reserviert, kommen Fahrgäste schneller und zuverlässig ans Ziel – doch auf den verbleibenden Spuren wird es enger. Eine Wohnstraße ohne Kfz-Durchgangsverkehr ist sicherer und lebenswerter für alle, gleichzeitig suchen Autofahrer:innen Wege zur Umfahrung. Durch die Verkehrsberuhigung können sich Händlerinnen und Händler über mehr Aufenthaltsqualität und Laufkundschaft vor ihrem Geschäft freuen – manche sorgen sich auch um Kundschaft, die bislang mit dem Auto kam. Und in umliegenden Straßen fragt man sich, ob der Autoverkehr nun vor der eigenen Haustür landet.

Derlei Sorgen und Zweifel sind verständlich, schließlich hat man sich über Jahrzehnte an die Allgegenwärtigkeit des Autoverkehrs gewöhnt. Gleichzeitig zeigt eine wachsende Zahl gut belegter Beispiele, dass sie oft unbegründet sind. Immer mehr Kommunen ordnen den Kfz-Verkehr neu und halten die Effekte durch Verkehrserhebungen fest. Es zeigt sich: Verkehrsmengen sind keine unveränderlichen Größen, sondern Folgen der Infrastrukturplanung. Menschen passen ihr Verhalten dem Angebot an: Sie wählen neue Routen, andere Verkehrsmittel, oder kombinieren diese miteinander, etwa durch Park&Ride. Begünstigen Verkehrsversuche aktive Mobilität oder öffentliche Verkehrsmittel, zeigt sich häufig, dass ein beträchtlicher Teil der vor der Maßnahme festgestellten Autofahrten gänzlich ausbleibt. Während mehr Straßenkapazität mehr Autoverkehr anzieht, führt eine geringere Kapazität zu weniger Autoverkehr.

Natürlich entfallen nicht alle Autofahrten oder verlagern sich automatisch von Wohn- auf Hauptstraßen, wenn dem Auto auf einem Straßenabschnitt Platz genommen wird. Deshalb empfiehlt sich Verkehrsberuhigung auf Quartiersebene und großräumiges Monitoring, um Probleme zu erkennen und notfalls nachzubessern. Die Praxis zeigt: Für solche Veränderungen braucht es Mut, doch die Alternativen– Straßenneubau oder Nichtstun – verbessern weder nachhaltig den Verkehrsfluss, noch tragen sie zu Klimaschutz oder lebenswerteren Städten bei.

Warum der Autoverkehr abnimmt, statt sich nur zu verlagern

Bereits seit den 60er Jahren ist bekannt, dass auch bei gleichbleibendem Verkehrsaufkommen die Erweiterung des Straßennetzes (z.B. durch Nutzung des Nebenstraßennetzes auf Empfehlung eines Routingdienstes) längere Fahrzeiten für alle Autofahrer:innen verursachen kann ("Paradoxon der Verkehrsplanung" des Mathematikers Dietrich Braess) und der (Aus)bau zusätzlicher Straßen langfristig mehr Verkehr verursachen kann ("induzierte Nachfrage" nach dem Ökonomen Anthony Downs).

Das bedeutet im Umkehrschluss: Der Verkehrsfluss ist nicht abhängig von der Leistungsfähigkeit des gesamten Straßennetzes, sondern vor allem von neuralgischen Punkten wie einzelnen Kreuzungen, an denen die Verkehrsmenge die Kapazität regelmäßig übersteigt. Daher verschlechtert eine Reduktion des Netzes nicht zwingend den Kfz-Verkehrsfluss, sondern kann ihn sogar verbessern, während gleichzeitig Flächen für andere Nutzung frei werden. Denn nach der Logik von Downs führt ein geringeres Angebot an Fahrspuren zu einer Verringerung der Nachfrage insgesamt, also weniger Autos auf den Straßen.


Notwendiger Paradigmenwechsel in der Verkehrsplanung; eigene Darstellung

 

Verkehrsversuche: Sechs Fallbeispiele unter der Lupe

Immer mehr Menschen in Zivilgesellschaft und Politik engagieren sich dafür, bestehende Privilegien des Autos abzubauen, um Kfz-Lärm zu verringern, Straßen sicherer für Kinder und Ältere zu machen und Menschen zu motivieren, statt dem Auto das Fahrrad oder den ÖPNV zu nutzen. In vielen Projekten geht es auch um eine bessere Aufenthaltsqualität, etwa in Einkaufsstraßen oder Wohngebieten, oder um eine klimaresiliente Umgestaltung, damit Regenwasser besser versickert und Hitzeinseln im Sommer abgemildert werden.

Um solche verkehrssichernden oder ‑regelnden Maßnahmen vorübergehend zu erproben, sieht die Straßenverkehrsordnung seit der Novelle im Jahr 2020 einen einfacheren Einsatz der „Experimentierklausel“ vor (§ 45 Abs. 1 S. 2 StVO). Seitdem bedarf es für sogenannte Verkehrsversuche keiner aufwendigen Begründung einer erheblich erhöhten Gefahrenlage mehr, wodurch sich der Verwaltungsaufwand verringert hat.

Daher haben mittlerweile zahlreiche Städte Gebrauch von dieser Erprobungsklausel gemacht und auch international gibt es immer mehr Erkenntnisse zu den Auswirkungen von Verkehrsversuchen. Einige Beispiele sollen im Folgenden vorgestellt werden. Grundsätzlich lässt sich zwischen folgenden Arten von Versuchen unterscheiden:

  • Umwandlung von Fahrstreifen, etwa in eine Busspur (Beispiel Potsdam) oder einen Radweg (Beispiel Bremen)
  • Verkehrsberuhigung in Wohngebieten durch Ein-/Durchfahrtsbeschränkungen (Beispiele Berlin, England, Bremen, Hamburg)
  • der vollständigen Umwidmung von Straßen, etwa zu Fußgängerzonen (Beispiel München)

Berlin: Flaniermeile Friedrichstraße

Eines der prominentesten Beispiele der jüngsten Zeit ist die Berliner Friedrichstraße. Seit August 2020 in eine sogenannte Flaniermeile (mit Radweg) umgewandelt, wurde das Projekt medial breit diskutiert. Während gewiss einige Aspekte der vorübergehenden Umgestaltung zu diskutieren sind, zeichnet die Auswertung des Versuches ein positives Zwischenbild. Die Hälfte aller Befragten äußerte, dass sie die Verkehrsberuhigung als Anlass empfinden, die Friedrichstraße nun öfter zu besuchen. Über 80 Prozent sprachen sich darüber hinaus für eine dauerhaft autofreie Straße sowie ähnliche Projekte in Berlin aus.

Während der Fußverkehr in der Flaniermeile in einigen Monaten um bis zu 50 Prozent zunahm, verlagerte sich der Kfz-Verkehr teilweise auf umliegende Straßen. Doch das führte dort keineswegs zu einer Überlastung. Lediglich die parallel verlaufende Charlottenstraße verzeichnete eine deutliche Mehrbelastung, die den dortigen Verkehrsfluss beeinträchtigte. Die übrigen Straßen wurden zwar ebenfalls als Alternativroute genutzt, konnten das zusätzliche Verkehrsvolumen aber hinsichtlich ihrer Netzklassifizierung als "Quartiersstraße" und Straßenraumaufteilung unproblematisch aufnehmen.

Ein gutes Drittel des Autoverkehrs, der vorher durch die Friedrichstraße fuhr, verschwand im Versuchszeitraum gänzlich aus dem Quartier. Den vormals 36.400 täglichen Kfz-Fahrten auf der Friedrichstraße standen lediglich 23.600 zusätzliche Kfz-Fahrten in den Parallelstraßen gegenüber. Daran zeigt sich, dass Menschen ihre Routinen und Entscheidungen anpassen, indem sie den Bereich großräumiger mit dem Auto umfahren oder andere Verkehrsmittel wählen. Nichtsdestotrotz erzeugte die (wenn auch nur teilweise) Verlagerung neue Belastungen in den umliegenden Straßen – was letztlich wohl auch zur Klage einer Gewerbetreibenden beigetragen haben dürfte, deren Geschäft sich in der Charlottenstraße befindet.

Inzwischen wurde zwar beschlossen, die Friedrichstraße gänzlich als Fußgängerzone zu gestalten und den Radverkehr über die Charlottenstraße zu leiten, die dafür notwenige straßenrechtliche Teileinziehung ist aber noch nicht abgeschlossen. Weil der Verkehrsversuch offiziell als beendet gilt, kehren nach dem Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts bis zur endgültigen Umwidmung erst einmal die Autos zurück in die Friedrichstraße.

München: Fußgängerzone Sendlinger Straße

In München wurde der nördliche Abschnitt der Sendlinger Straße bereits vor längerer Zeit zur Fußgängerzone umgewidmet. Nach dem Erfolg dieses ersten Schrittes wurde auch der südliche Bereich versuchsweise verkehrsberuhigt und städtebaulich umgestaltet. Die Stadt München legte dabei Wert auf weitreichende Beteiligungsmöglichkeiten und eine umfassende Evaluation der Wirksamkeit der Maßnahmen.

Die Verkehrserhebungen vor und während des Versuchs legten nahe, dass es werktags zu kaum merklichen Veränderungen im Verkehrsaufkommen kam, wodurch die Verkehrsbelastung im umliegenden Stadtviertel fast gleichgeblieben ist. An Wochenenden nahm die verkehrliche Belastung zu Spitzenzeiten leicht zu, überstieg aber nicht die Leistungsfähigkeit des umliegenden Straßennetzes und lag insgesamt unterhalb der werktäglichen Gesamtbelastung. In dem Evaluationsbericht werden die Veränderungen daher als „verkehrsplanerisch vertretbar“ eingestuft.

Durch die Umwidmung erhielten Fußgänger deutlich mehr Platz, wodurch nun mehr Menschen diesen Ort nutzen können. Die Sendlinger Straße ist daher ein gutes Beispiel dafür, wie die Schaffung einer Fußgängerzone die Lebensqualität verbessern und sich insbesondere in Einkaufsstraßen positiv auf den lokalen Einzelhandel auswirken kann.

Bremen: Erlebnisraum Martinistraße

Während die Sendlinger Straße in München von Beginn an als Fußgängerzone konzipiert wurde, war die Ausrichtung der Planungen in der Bremer Altstadt unter der Bezeichnung „Reallabor für die zukünftige Stadt“ zunächst deutlich offener. Zwischen Juli 2021 und April 2022 wurden auf der ehemals vierspurigen Martinistraße drei unterschiedliche Verkehrsversuche durchgeführt und von verschiedenen Aktionen (u. a. Installationen, Konzerte, Filmvorstellungen, Straßentheater) begleitet.

Das Projekt begann in der ersten Phase mit einer Vollsperrung der Martinistraße für den Kfz-Verkehr, wodurch eine besonders große Freifläche entstand, welche für Events in der Ferienzeit genutzt wurde und ohnehin mit der baustellenbedingten Sperrung der Kreuzung verknüpft war. In der zweiten Phase wurde durch Wegnahme von Fahrspuren und Ausweisung einer Einbahnstraße für den Kfz-Verkehr versucht, möglichst viel Flächen in den Seitenräumen für andere Nutzungsarten zurückzugewinnen. In der dritten und letzten Phase wurde der Kfz-Verkehr auf je eine Spur pro Richtung reduziert und zusätzlich geschützte Radfahrstreifen angelegt.

Freifläche zum Verweilen im Projekt "Erlebnisraum Martinistraße" (© Sternkultur)

Alle drei Phasen wurden wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Die Evaluation zeigt, dass sich insbesondere in der dritten Phase der Verkehr großflächig verändert hat. So hat der Kfz-Verkehr in der Altstadt und der Umgebung an mehr als der Hälfte aller 30 Zählstellen um mindestens 15 Prozent abgenommen. Eine (moderate) Zunahme an Kfz-Verkehr konnte dagegen lediglich an vier Zählstellen registriert werden, wodurch allerdings keine Überlastung entstand.  

Die gleichmäßige Auslastung eines naheliegenden Parkhauses während der drei Versuchsphasen belegt zudem, dass Autofahrende die Innenstadt weiterhin erreichen können. Dies lässt den Schluss zu, dass lediglich der Durchgangsverkehr durch die Maßnahmen in der dritten Phase auf weiträumigere Alternativrouten verlagert wurde oder manche auf die Fahrt im Pkw verzichtet haben.

Nach Auswertung der Ergebnisse wurde daher vorgeschlagen, die derzeit etablierte Phase „Einspuriger Zweirichtungsverkehr mit geschütztem Radfahrstreifen“ grundsätzlich beizubehalten und weiter zu optimieren.

Hamburg: Ottensen macht Platz

Auch das Projekt „Ottensen macht Platz“ im Hamburger Bezirk Altona widmete zeitweise das gründerzeitgeprägte Zentrum zu einem autofreien "Flanierquartier" um. Ab September 2019 waren Parken im Straßenraum und Einfahrten in das Projektgebiet weitgehend untersagt. Dafür wurden insgesamt 800 m Straße als Fußgängerzone ausgewiesen und verschiedene Sitz- und Pflanzenelemente im öffentlichen Raum errichtet. Der Versuch erfuhr eine breite Zustimmung. Rund 78 Prozent der befragten Passant:innen hielten den Versuch für gut oder sehr gut für den Stadtteil. Auch in Hamburg-Ottensen verlagerte sich ein Teil des motorisierten Verkehrs in umliegende Straßenzüge – ohne diese jedoch zu überlasten, da die vorgesehenen Kapazitäten weiterhin deutlich unterschritten wurden. So verzeichnete eine Nebenstraße (Kleine Rainstraße) zwar je nach Wochentag 10 bis 50 Prozent zusätzliches Verkehrsaufkommen. Die gesamte Kfz-Menge bewegte sich dort aber immer noch auf einem so niedrigen Niveau, dass die Kapazitätsgrenze nicht überschritten wurde und es nicht zu erheblichen Mehrbelastungen für Anwohnende kam. Dagegen wurden in der zum Projektgebiet führenden Bahnefelder Straße rund 80 Prozent weniger Kfz-Verkehr erfasst. Daraus ergibt sich ein Rückgang des Verkehrsaufkommens im Projektgebiet von insgesamt rund 15 bis 25 Prozent. Dieser Anteil des vormaligen Verkehrs weicht also großräumiger aus oder verschwindet gänzlich.

Nach Auswertung des Verkehrsversuches wurde ein neues Konzept unter der Beteiligung von Bürger:innen erarbeitet, welches nun dauerhaft vorsieht, „den zentralen Bereich des Projektgebiets für den allgemeinen Kfz-Verkehr zu sperren“. Der Verkehr im umliegenden Bereich soll mit Hilfe der Einrichtung von Fahrradstraßen und absenkbaren Pollern zusätzlich beruhigt werden, um Verlagerungseffekten vorzubeugen.

Potsdam: Bussonderfahrstreifen Zeppelinstraße

Der Verkehrsversuch auf der Zeppelinstraße in Potsdam verfolgte dagegen einen anderen Zweck. Das hohe Aufkommen im Pendelverkehr sorgte für eine dauerhafte Schadstoffbelastung deutlich über dem gesetzlichen Grenzwert. Daher startete die Stadtverwaltung im Juli 2017 einen Modellversuch und teilte den Straßenraum der wichtigen Ausfallstraße neu auf: Seitdem gibt es für den Kfz-Verkehr anstelle von jeweils zwei Spuren nur noch eine Geradeausspur je Richtung, sowie eine wechselseitige Spur für Linksabbieger. Der gewonnene Platz wurde für eine Busspur (mit Freigabe für den Radverkehr) in Richtung Innenstadt sowie einen Radfahrstreifen stadtauswärts verwendet. Zusätzlich wurden „Park-and-Ride-“ sowie „Bike-and-Ride“-Angebote an den Verknüpfungspunkten des ÖPNV geschaffen und abschnittsweise Tempo 30 angeordnet.

Wie die anschließende Auswertung zeigte, wirkt sich die Maßnahme positiv auf den Verkehr und damit auf die Schadstoffbelastung aus. Der Autoverkehr konnte um etwa zehn Prozent (ca. 3.000 Fahrzeuge pro Tag) reduziert werden, wodurch die Grenzwerte erstmals eingehalten werden können.

Auch in diesem Fall wurden Verlagerungseffekte auf Umfahrungsstrecken verzeichnet, welche jedoch unterhalb der reduzierten Verkehrsmenge auf der Zeppelinstraße liegen und den Verkehrsfluss oder die Schadstoffbelastung anderer Straßen nicht weiter beeinflussen. Für die Bereiche, in denen Anwohnende durch Ausweichverkehr belastet werden, wurden weitergehende Maßnahmen vorgeschlagen.

Neben der Stärkung des ÖPNV auf der Zeppelinstraße konnte auch das Konfliktpotenzial zwischen Fuß- und Radverkehr im Seitenraum verringert werden, was sich positiv auf Aufenthaltsqualität und Verkehrssicherheit auswirkt.

Aufgrund dieser Erkenntnisse wurde im Anschluss an die Evaluation die Verlängerung der stadteinwärtigen Bus- und Fahrradspur vor dem Ortseingang Potsdam beschlossen. Mit Fertigstellung der Baumaßnamen im Jahr 2021 wurde die innerorts bereits vorhandene Busspur von der Kastanienallee bis zur Straße „An der Pirschheide“ auf insgesamt knapp 2,4 km ergänzt, wodurch Busse ungehindert am morgendlichen Berufsverkehr vorbeifahren können.

London, Birmingham: Verkehrsberuhigte Wohnquartiere und Schulwege

Anderes Land, ähnliche Erfahrungen: Im Londoner Stadtteil Waltham Forest wurden Wohnquartiere, sogenannte „villages“, verkehrsberuhigt. 100 Kreisel und Kreuzungen wurden neugestaltet, 22 km getrennte Radwege eingerichtet und Radfahrer:innen und Fußgänger:innen Vorrang vor dem Kfz-Verkehr eingeräumt. Nach einer Studie des Centre for London reduzierte sich der Autoverkehr im Hauptbereich der verkehrsberuhigten Zone um etwa die Hälfte, der Verkehr auf den zwölf Hauptverkehrsstraßen um 56 Prozent. Laut einer Studie der University of Westminster und des King's College London wurden im Vergleich zum ersten Jahr des Programms 10.000 Autos pro Tag weniger gezählt. Die Anwohner:innen wurden zudem körperlich aktiver: So waren sie im Schnitt zusätzliche 32 Minuten pro Woche zu Fuß und neun Minuten zusätzlich mit dem Rad unterwegs. Dies galt wohlgemerkt für alle demografischen und sozio-ökonomischen Gruppen.

Untersuchungen in Birmingham zeigen ebenfalls keine Zunahme des Autoverkehrs in unmittelbarer Nähe für Kfz-Verkehr gesperrter Straßen. In der zweitgrößten Stadt des Landes sind Straßen vor einigen Schulen vor und nach Unterrichtsbeginn von Kfz-Verkehr befreit, um Kindern einen sicheren Schulweg zu ermöglichen. Der Studie zufolge gehen immer mehr Kinder zu Fuß zum Unterricht und die Luftqualität hat sich seit der Einführung deutlich verbessert.

Die verkehrsberuhigte Orford Road als Teil eines "Mini Hollands" im Londoner Bezirk Waltham Forest (CC BY-NC-ND 2.0 Martin Deutsch)

Fazit: Verkehr ist kein natürlicher Strom

Die Fallbeispiele zeigen: Änderungen im Straßennetz führen nicht unbedingt zur Verlagerung der gleichen Verkehrsmenge, sondern in der Regel zu weniger Autoverkehr. Die wohl umfänglichste Meta-Studie zu dem Thema von Cairns et al. (2002) vergleicht über 60 Fallstudien aus elf Ländern und bestätigt diese Erkenntnisse: Verkehr verhält sich nicht wie ein natürlicher Strom, der sich den Weg des geringsten Widerstands sucht, sobald ein anderer Weg erschwert wird. Vielmehr ist Verkehr die Folge menschlicher Entscheidungen, die aufgrund bestimmter Bedingungen getroffen werden – und die lassen sich ändern. Eine im Rahmen der Studie durchgeführte Umfrage unter Verkehrsplaner:innen legt nahe, dass Menschen infolge der Neuverteilung des Straßenraums nicht nur andere Routen nutzen, sondern auch ihre Fahrten reduzieren, zu anderen Uhrzeiten oder in anderen Verkehrsmitteln vornehmen. Rund die Hälfte der Befragten hält es für schlüssig, dass Fahrtziele kombiniert oder verändert werden oder auch vermehrt Carsharing genutzt wird. In der Hälfte der untersuchten Gebiete ging die Anzahl der Fahrzeuge um mindestens 11 Prozent zurück, nachdem der Raum für Autos reduziert wurde. Lediglich in drei der 60 Fälle ließ sich ein signifikanter Anstieg des Verkehrsaufkommens beobachten.

Nach Cairns et al. (2002); eigene Darstellung

 

Wer nichts tut, lässt die Straßen weiter verstopfen

Auch wenn der Kfz-Verkehr insgesamt abnimmt, können punktuelle Verkehrsverlagerungen bei Betroffenen Sorgen und Widerstand hervorrufen. Diese Reaktionen sind verständlich – und bekräftigten das Anliegen der Verkehrswende: Niemand wünscht sich mehr Kfz-Verkehr vor der eigenen Haustür.

Doch Nichtstun ist keine Lösung: Seit Jahrzehnten wächst die Anzahl an Autos in Deutschland. Allein in den vergangenen 40 Jahren hat sich der Pkw-Bestand auf mittlerweile rund 48,5 Mio. Fahrzeuge verdoppelt. Vor Kurzem verkündete das Statistische Bundesamt für 2021 den Rekordwert von 580 Autos pro 1.000 Einwohner:innen in Deutschland – die Auswirkungen sind besonders in Städten spürbar.

Neben jahrzehntelanger Stadtplanung nach dem Leitbild der "autogerechten Stadt" sorgen Navigationsdienste dafür, dass bei Stau und Überlastung neue Ausweichrouten im Nebenstraßennetz entstehen, was die Kapazität im Straßennetz weiter erhöht.

Städte und Kommunen stehen in der Pflicht, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Dafür können sie mit Verkehrsversuchen beginnen, sollten aber ein durchdachtes Konzept von flächendeckender Verkehrsberuhigung als Ziel vor Augen haben. Ein erfolgreiches Beispiel ist des "Circulatieplan" genannte Konzept in Gent: In der belgischen Hafenstadt wurde der Durchgangsverkehr im historischen Zentrum auf den Stadtring verbannt und die Zufahrt in andere Quartiere ebenfalls darüber umgeleitet. Die Abnahme des Autoverkehrs machte die Straßen attraktiver zum Radfahren – ihre Radverkehrsziele für 2030 erreichte die Stadt schon 2018. Die großflächige Verkehrsberuhigung reduzierte außerdem Stau- und Luftprobleme in der Innenstadt und schaffte mehr Platz und Aufenthaltsqualität.

Solche weitreichenden Maßnahmen erfordern Mut. Doch wer nichts tut, lässt Wohn- und Nebenstraßen durch die wachsende Zahl von Autos und den Einsatz von Navigationsdiensten weiter verstopfen. Ganz, wie von den beiden Wissenschaftlern Downs und Braess bereits vor über 50 Jahren beschrieben.

 

Anregungen für Städte und Kommunen finden sich im Faktenblatt „Mut zur lebenswerten Stadt“.

Alle Beiträge von Wolfgang Aichinger, Lennard Markus

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